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Evergrande und Fantasia: Warum in China Immobilienkrisen so sensibel sind

China Post aus Nanjing, 13. Oktober 2021
Von Bernhard Weber, Baden-Württembergs Vertreter in China und CNBW-Vorstandsmitglied 


Brücke Jürgen Wigge Neu
(Foto: Jürgen Wigge)

Die internationalen Medien berichten nun schon seit einiger Zeit von der Finanzkrise beim größten chinesischen Immobilienunternehmen Evergrande. Und nun werden auch Probleme bei einem zweiten großen Unternehmen der Branche gemeldet: Danach ist es für die Fantasia Holding (Shenzhen) schwer, ihre Schulden zurückzuzahlen. Die Summen, um die es sich handelt, sind sehr hoch. Dennoch gehen die meisten Experten davon aus, dass keine schwerwiegende Finanzkrise über China hereinbrechen wird. Trotzdem erscheint es als eine Art Zäsur, denn lange Zeit galten die großen Immobilienfirmen als wichtige Motoren chinesischen Wirtschaftswachstums.

Historischer Hintergrund der chinesischen Immobilienindustrie
Bis in die Neunzigerjahre lebten die meisten chinesischen Stadbewohner in Wohnungen, die ihnen ihre Arbeitseinheiten zu geringen Mieten zur Verfügung stellten. Die Wohnungen waren meist sehr klein und bescheiden in der Ausstattung. Nach der Machtergreifung der Kommunisten 1949 hielt der Wohnungsbau mit der Bevölkerungsexplosion nicht Schritt. Und er wurde besonders in Zeiten großer politischer Bewegungen, wie der Kulturrevolution, ganz ausgesetzt. Die Folge war äußerst knapper Wohnraum. Absolventen von Schulen und Universitäten wurden einer Einheit zugeteilt und meist in Wohnheimen untergebracht, in denen sich sechs oder mehr Personen einen Raum teilten. Erst mit der Heirat hatte man Anspruch auf eine Wohnung und wurde auf eine Warteliste gesetzt. Es war nicht ungewöhnlich, dass sich zwei Generationen eine kleine Wohnung teilten. Oft wurden Räume durch Vorhänge geteilt, um etwas Intimsphäre zu schaffen.

Zum Zeitpunkt der Öffnung des Landes nach außen (1978) sahen die meisten chinesischen Städte noch sehr traditionell aus. In Beijing konnte man von den wenigen Hochhäusern, meist Hotels, kilometerweit über die traditionellen Hofhäuser schauen, von denen heute nur noch wenige erhalten sind. Wurden diese Höfe ursprünglich von mehreren Generationen einer Familie bewohnt, lebte dann in den Achtzigerjahren eine Familie in jedem einzelnen Gebäude der Anlagen. Man teilte sich Küchen und – soweit vorhanden – sanitäre Anlagen. Genutzt wurden auch öffentliche Toiletten und Badeanstalten.

In Shanghai war es besonders prekär. Ich erinnere mich an eine Zahl: 1980 hat der durchschnittliche Wohnraum in Shanghai pro Person 1,5 qm betragen. Nach eigener Anschauung bei Freunden in der Stadt Anfang der Achtzigerjahre kann ich diese beengten Verhältnisse bestätigen ... Auf der anderen Seite war natürlich sehr viel historische Bausubstanz völlig erhalten. Die Städte hatten je nach regionaler Lage  ihren ursprünglichen Charakter. Um die historischen Stadtkerne gab es Neubauten –  fünf bis sieben Stockwerke hohe Equivalente zu den Plattenbauten der DDR. Innerhalb der alten Stadtmauern von Hangzhou und Suzhou konnte man den alten Glanz in der Architektur noch sehen. Aber davon ist nicht viel übrig geblieben. Die Reste sind heute Touristenattraktionen. Was war passiert?

Beginnender Bauboom
Mit dem Beginn der Öffnungspolitik begann auch ein gewisser Bauboom. Und verschiedene staatliche Betriebe errichteten neue Wohnungen für ihre Mitarbeiter. Die Industrie entwickelte sich zuerst noch relativ langsam, aber zu den Staatsbetrieben kamen nun auch immer mehr private Unternehmen und auch ausländische Firmen. Wo sollten die Mitarbeiter dieser Firmen wohnen? Als ich 1994 meine Stelle als Kaufmann eines kleinen Joint Venture von Siemens in Nanjing antrat, war es vereinbart, dass unsere Mitarbeiter auch in Wohnungen des Joint-Venture-Partners unterkommen sollten. Das war kein Problem, solange die Mitarbeiter auch aus dem Unternehmen des Partners kamen. Als wir aber die ersten Mitarbeiter von außerhalb anstellten, gingen die Diskussionen los. Mietwohnungen waren kaum zu bekommen. Irgendwie einigten wir uns, so dass auch diese Kollegen eine Wohnung oder zumindest einen Wohnheimsplatz beim chinesischen Partner bekommen konnten.

Mitte der Neunzigerjahre beschloss die chinesische Zentralregierung, das tote Kapital dieser Wohnungen in den staatseigenen Betrieben zu heben. Alle Betriebe wurden angewiesen, die Wohnungen zu verkaufen, wobei den jeweiligen Bewohnern ein großer Rabatt eingeräumt werden musste. Es gab ein bestimmtes Raster, mit dem Wohnungspreise jeder Stadt festgelegt wurden. Für jedes Jahr, das man in der Wohnung gelebt hatte, gab es einen weiteren Preisnachlass. Eine gute Bekannte in Nanjing konnte ihre 40 qm große Wohnung für 35.000 RMB kaufen. So wurden fast alle ehemaligen Mieter zu Wohnungsbesitzern. Allerdings besaßen sie nicht den Boden unter den Häusern – der ist im Besitz des Staates China.

Entschädigung und neue Modelle
Nach diesem ersten Schritt begann die Phase der großen Neuplanung in den Städten, der neben der allgemeinen Infrastruktur vor allem die Planung neuer Wohnungen umfasste. Dafür wurden die Grundstücke unter den bestehenden Häusern versteigert. Die ersten Immobilienunternehmen entstanden. Diese mussten zuerst die Besitzer der bestehenden Wohnungen entschädigen, dann ganze alte Wohnviertel abreißen und darauf neue Wohnanlagen oder kommerzielle Gebäude bauen. Bei der Entschädigung gab es anfangs einige Probleme, die aber von staatlicher Seite schnell zugunsten der Wohnungsbesitzer gelöst wurden. Unsere oben schon genannte Bekannte erhielt für ihre kleine Wohnung dann als Entschädigung mehr als eine Million RMB.

Die ersten Immobilienunternehmen waren staatliche Betriebe, aber bald kamen auch private Unternehmer dazu, die wesentlich agiler arbeiten konnten. In Nanjing habe ich die Entwicklung des größten lokalen Immobilienunternehmens miterlebt. Der Gründer hatte gemeinsam mit seinem Bruder begonnen, mit damals sehr gefragten Klimaanlagen zu handeln. Im Gegensatz zu den staatlichen Kaufhäusern sah das Geschäftsmodell auch Installation und Service vor. Bald entwickelte sich daraus eine Kette von Elektroläden, ähnlich Saturn oder Media Markt. Durch geschicktes Verhandeln und einen gewissen politischen Rückhalt konnte dieses Unternehmen einen zweiten Zweig in der Immobilienbranche aufmachen, ersteigerte seine ersten Grundstücke und begann mit Krediten die ersten Wohnungen zu bauen. Da Kredite erst am Ende der Laufzeit zurückzuzahlen waren, wurden mit dem Cashflow aus dem Elektrogeschäft die Zinsen bedient. Nach zwei Jahren Bauzeit waren die Wohnungen verkauft – mit Gewinnen zwischen 30 und 40 Prozent.

Ähnliche Geschichten spielten sich in allen Gegenden ab. Was alle auszeichnete, war die anfängliche Nähe zur lokalen Politik. Daher ist es bis heute nicht verwunderlich, dass bei den Antikorruptionskampagnen, die seit der Machtübernahme von Xi Jinping sehr wichtig sind, vor allem Zuwendungen aus der Immobilienbranche im Vordergrund stehen.    

Man kann guten Gewissens behaupten, dass ein großer Teil der heutigen Bausubstanz der chinesischen Städte erst nach 1995 entstanden ist. Es wurde vergleichsweise billig gebaut und recht teuer verkauft. Die meisten Familien konnten alleine schon durch den Verkauf der ersten alten Wohnung eine moderne kaufen. Immobilien wurden auch die bevorzugte Geldanlage für alle, die etwas Geld übrig hatten. Durch Beleihen der ersten Wohnung konnten sich viele Anleger mehrere Wohnungen kaufen. Weil die Wohnungspreise exorbitant gestiegen sind, haben einige Familien sehr viel Geld verdient. Der Bauboom hatte auch eine gewisse Gleichförmigkeit chinesischer Metropolen zur Folge. Erst allmählich entwickelt sich ein Verständnis für die alte Baukultur. Was noch vorhanden ist, wird nun zum Teil renoviert und meist touristisch genutzt. Man kann es den Leuten aber nicht verdenken, die alten, beengten und einfachen Wohnverhältnisse gegen moderne Wohnungen mit eigenen Toiletten, Bädern und Küchen getauscht zu haben.

Heirat und 40 Jahresgehälter …
Eine Wohnung zu besitzen, ist mittlerweile eine Voraussetzung für viele junge Männer, um heiraten zu können. Die Eltern versuchen dafür zu sorgen, dass ihre Söhne rechtzeitig ein eigenes Apartment bekommen. Inzwischen ist es aber in den meisten Städten extrem teuer, eine Wohnung zu kaufen. Man rechnet mit etwa 40 Jahresgehältern für ein durchschnittliches Apartment. In den Metropolen wohnen daher sehr viele Menschen, die von außerhalb kommen, mit geringerem Einkommen in sehr einfachen Verhältnissen. Aber ohne Chance, jemals an ein eigenes Heim zu kommen.

Hohe Preise trotz Überangebots
Ein großer Teil der Mittelschichtseinkommen sind in Immobilien gebunden. Seit Anfang des neuen Jahrtausends sind die Immobilienpreise fast in allen Städten gestiegen. Wer früh einstieg, konnte ein Vermögen machen. In vielen Städten gibt es ein Überangebot an leeren, aber schon verkauften Wohnungen und zum Teil auch an fertigen und unverkauften Wohnungen. Die Immobilienfirmen lebten ab einer gewissen Größenordnung vom schnellen Cashflow, mit dem sie ihre Kredite bedienen konnten. Daher war das Jahr 2020 mit der Coronakrise für viele Unternehmen ein Lackmustest.  Der Wohnungskauf nahm rapide ab, trotzdem gab es kaum einen Preisverfall, weil die Immoblienfirmen befürchteten, dadurch einen Dominoeffekt in Bewegung zu setzen. Vielerorts stundeten die Banken – auch mit politischer Unterstützung – Kredite, denn es war auch im Interesse der Regierung, dass die lokalen Immobilienfirmen nicht zugrunde gehen. Genauso ist es im Interesse der Regierung, dass der Wert der Immobilien nicht sinkt, damit es keine sozialen Unruhen gibt. Versuche von Seiten der Regierung, die Preise auf ein vernünftiges, bezahlbares Niveau zu bringen, gab es in der Vergangenheit, etwa auch mit einer Art des sozialen Wohnungsbaus, aber richtig gefruchtet haben diese Maßnahmen wenig. 

Ob Evergrande oder Fantasia bankrott gehen werden, kann bisher keiner absehen. Vielleicht  will die Zentralregierung ein Exempel statuieren, um die anderen Immobilienunternehmen zu mehr Vorsicht zu zwingen oder auch um die Wohnungspreise auf einem gewissen Niveau stagnieren zu lassen. Abwarten und Tee trinken …

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