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Hirns Köpfe im CNBW: Porträt Oliver Radtke

Exklusiv: CNBW-Porträtreihe 
Hirns Köpfe


 Wolfgang Hirn Skizze


Seit 1986 reist der Journalist Wolfgang Hirn regelmäßig nach China. Rund 35 Jahre schrieb er für das manager magazin. Er ist Buchautor und Herausgeber der Newsletters CHINAHIRN. Für das CNBW beschreibt der gebürtige Tübinger spannende Persönlichkeiten der baden-württembergischen China-Community.

Porträt:
Oliver Radtke
Chief Representative China, Heinrich Böll Stiftung

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Von Tübingen nach Beijing:
Stiftungen – China-Programme – Chinglish und Comics

Derzeit ist Oliver Radtke (45) noch in Berlin. Seit Anfang März lernt er dort seinen neuen Arbeitgeber kennen – die Heinrich Böll Stiftung. Aber sein Ziel ist Beijing. Dort soll er das Büro der den Grünen nahestehenden Parteistiftung leiten. Wann das genau sein wird, weiß er noch nicht. "Im Sommer", sagt er vage. Es sei halt viel Papierkram zu erledigen. Dabei hat Radtke im Umgang mit China und seinen Behörden viel Erfahrung. Über zehn Jahre lang war er Leiter des China-Programms der Robert Bosch Stiftung. Er weiß, wie man mit Chinesen verhandelt. Er weiß, was Geduld auf Chinesisch heißt – wörtlich und im übertragenen Sinne.

TCM? Chinesische Sprache macht mehr Spaß
Schon früh beschäftigte er sich mit der chinesischen Sprache. In seiner kurzen Krefelder Gymnasialzeit gab es eine China AG. "Wir waren eine kleine Gruppe. Das hat damals richtig Spaß gemacht." Krefeld war allerdings nur ein "niederrheinisches Intermezzo". Den Großteil seiner Jugend verbrachte er in Tübingen, wohin er als Dreijähriger mit seinem Vater zog. Grundschule – erst Kepler-, dann Geschwister-Scholl-Schule – waren lehrreiche Stationen in der Universitätsstadt. Nach dem Zivildienst auf einer allgemeinchirurgischen Station und als Transplanthelfer kam er dann wieder mit China in Berührung, als er in der Klinik am Steigerwald in Gerolzhofen in die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) eintauchte. "Aber die chinesische Sprache inter­essierte mich mehr als die Medizin", sagte er. Und er entschloss sich, Sinologie zu studieren. Nur wo?

Akribisch nahm er die Institute an den deutschen Hochschulen unter die Lupe – und entschied sich für Heidelberg. In der dortigen Sinologie wird das Moderne China gelehrt, und dort gibt es laut Radtke die beste Sprachausbildung. Vor Studienbeginn ist dort zunächst ein einjähriges Propädeutikum zu absolvieren. Das hieß für ihn vor allem pauken, pauken, pauken. 20 bis 25 Stunden Unterricht pro Woche. Im Jahr 2000 – kurz nach Studienbeginn – war Radtke dann zum ersten Mal in China. Er reiste durch das Land, sprach mit den Leuten – und sie verstanden ihn. "Das hat mich geradezu beflügelt, das Sprachstudium mit dem nötigen Ernst und Respekt weiter zu betreiben."

Spielwiesen: Chinglish und Comics
Aus dieser Zeit stammt ein weiteres Faible: Das Sammeln von Chinglish-Ausdrücken. Das sind unfreiwillig komische Übersetzungen von chinesischen Formulierungen ins Englische. Sie sind auf Speisekarten, Reklameschildern und in Behördentexten zu finden. Radtke präsentierte und kommentierte diese witzigen Ausdrücke auf einem eigenen Blog und später in drei Büchlein ("Chinglish – Found in Translation", "More Chinglish: Speaking in Tongues" und "Plain Chinglish"). Seinen Hang zum Skurrilen zeigt sich auch in einer weiteren Sammelleidenschaft: Comics aus Zeiten der Kulturrevolution. Wann immer er welche fand, kaufte er sie, übersetzte und digitalisierte sie auf einer Homepage. "Meine Spielwiesen" nennt er diese Aktivitäten abseits des Studiums, das er 2006 mit dem Magister abschloss.

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China-Programme

Es folgte eine Phase als TV-Journalist bei einem chinesisch-sprachigen Sender in Singapur, ehe er von 2008 bis 2010 für das Projekt der Bundesregierung "Deutschland China – gemeinsam in Bewegung" vor Ort in China arbeitete. Damals nahm Berlin viel Geld in die Hand, um durch viele Veranstaltungen für ein besseres Verständnis zwischen beiden Ländern in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu werben. Das Projekt endete mit der Expo 2010 in Shanghai.

Anruf aus Stuttgart
Während er dann in Heidelberg zu promovieren begann, kam ein Anruf aus Stuttgart. Die Robert Bosch Stiftung suchte einen Nachfolger für Marc Bermann als Leiter des China-Programms. Radtke musste nicht lange nachdenken: "Das ist eine Chance, die so schnell nicht wiederkommt." Im April 2011 fing er bei der Robert Bosch Stiftung an. Er organisierte viele Austauschprogramme – für Richter, Anwälte, Journalisten, Lektoren, für NGOs und Kulturschaffende, in den vergangenen Jahren auch über Chinas Grenzen hinaus in und mit Südkorea, Thailand, Vietnam und Indonesien.

Zuletzt war Oliver Radtke zusätzlich drei Jahre lang deutscher Generalsekretär des Deutsch-Chinesischen Dialogforums, einem Beratergremium für die Regierungen beider Länder. "Ich habe eine große Bandbreite von Akteuren kennengelernt und ein sehr vielfältiges China-Bild bekommen", resümiert Radtke seine Bosch-Zeit, die Anfang 2022 endete. Bereits 2019 hatte sich die Robert Bosch Stiftung neu aufgestellt. Man orientierte sich dort nun an Mega-Themen, nicht mehr an Regionen. Das China-Programm wurde eingestellt. Radtke widmete sich in der Stiftung noch kurz dem Klimaschutz, eher er sich verabschiedete. Aber er schied nicht im Groll: "Ich bin der Stiftung sehr dankbar. Es war eine extrem fordernde, kreative und bereichernde Zeit. Ich bin von einem China-Spezialisten zu einem echten Völkerverständiger gereift."

Differenziertes China-Bild
Und dann sagt der nachdenkliche und stets die Worte abwägende Radtke noch einen wichtigen Satz: "Ich bin zu einem simplifizierten China-Bild nicht mehr fähig." Radtke plädiert für den Dialog mit China und ein eben ein differenziertes China-Bild. Gute Voraussetzungen für seinen neuen Job bei der Heinrich Böll Stiftung in Beijing.

Autor: Wolfgang Hirn
24.4.2022
E-Mail: mail@chinahirn.de